Tara und das Einhorn Tara
rannte eines Morgens nach dem Aufwachen sofort zu ihrer Mutter. "Mama,
Mama, Du glaubst nicht, was ich heute Nacht geträumt habe!" Die
Mutter legte die Näharbeit zur Seite, und nahm das aufgeregte Mädchen
in den Arm. "Na, was war das denn Spannendes?", fragte sie und lächelte.
"Also, Mama, da war ein schwarzes Pferd! Und das hatte ein Horn auf
der Stirn! Und dann war da noch ein großes fliegendes Tier mit
Schuppen! Und das Pferd rannte
weg!", sprudelte es aus der Kleinen. "So, so", meinte die Mutter,
"da hast Du also einen Ffulgor und ein Glasswitren gesehen." Fragend
schaute Tara ihre Mama an. "Weißt Du, Glasswitren ist der Name für
das schwarze Einhorn, und das geflügelte Tier war sicher ein Drache.
Den nennt man Ffulgor. Es gibt viele Leute in Tir Thuata, die an sie
glauben, aber gesehen habe ich noch keines dieser Fabelwesen.
Wahrscheinlich gibt es sie gar nicht." Die Mutter schmunzelte. "Aber
sie waren so wirklich, als ob sie neben mir gestanden hätten!" -
"Nun, dann gehe doch vor's Haus, und sehe nach, wo sie sind. Und wenn
Du gerade dabei bist, kannst Du dem Vater das Essen bringen." Sie
schob ihre Tochter von sich weg, stand auf und drückte ihr einen Beutel
mit Brot und Käse in die Hand. Murrend
verließ Tara die Hütte. Und wenn ihr niemand glauben würde, sie wußte,
daß es diese Tiere gab! Taras
Mutter war ziemlich erstaunt, daß das Mädchen freiwillig früh zu Bett
ging. Aber sie war eigentlich ganz froh darüber, und sagte daher
nichts. Tara
stand in einem Wald. Es war sommerlich warm, und die Blätter der Laubbäume
glänzten im Sonnenlicht. Das Mädchen hatte diesen Wald noch nie
gesehen, und trotzdem fühlte es sich nicht verloren. Tara sah einen
Wildwechsel und folgte ihm, bis sie an einer wunderschönen Lichtung mit
einem See stand. Das Wasser war warm, und rasch zog sie sich die Kleider
aus um zu schwimmen. Sie genoß den Sonnenschein und ließ sich an der
Oberfläche treiben. Plötzlich fühlte sie sich nicht mehr allein. Ganz
leise schwamm sie zum Ufer und versteckte sich im Schilf. Was sie sah,
raubte ihr den Atem. Das schwarze Pferd - nein, das Glasswitren!
Vorsichtig tastete sich das Tier zum Wasser. So etwas Schönes hatte
Tara noch nie gesehen. Das Fell glänzte im Sonnenlicht und das Horn sah
aus wie gedrechselt. Die Augen leuchteten wie Edelsteine und machten
einen klugen Eindruck. Das
Einhorn schnoberte und sah sich um. Auf einmal sah es genau in Taras
Richtung! Das Mädchen fühlte sich ertappt, aber das Tier machte keine
Anstalten zu fliehen. Es kam näher und senkte dann den Kopf, um zu
trinken. Da
schob sich auf einmal ein Schatten vor die Sonne! Gleichzeitig blickten
das Mädchen und das Tier zum Himmel. Der Drache flog mit ausgestreckten
Krallen auf sie zu! Seine goldbraunen Schuppen funkelten im Sonnenlicht,
die roten Augen glitzerten böse und aus seinem Maul kam ein kurzer
Feuerstoß, als er zum Angriff ansetzte. Das Einhorn stieg auf die
Hinterhand, wieherte schrill und galoppierte in den Wald zurück. Der
Drache konnte sich gerade noch vor den Bäumen abfangen und drehte ab.
Er brüllte vor Wut, weil er seine Beute verpaßt hatte. Tara
blieb noch einige Zeit im Wasser, bis sie sich heraustraute. Die Tiere
waren weg. Sie zog sich an und - wachte auf. "Papa",
begann sie, als sie mit ihrem Vater zur Schmiede ging, "ich habe heute
Nacht von einem Glasswitren geträumt." - "Aha, und von Ffulgor womöglich
auch?" Tara bejahte. "Ja ja, so etwas habe ich auch mal geträumt,
als ich so alt war wie Du. Solche Träume hat jeder mal." Damit war für
den Vater das Thema erledigt. Tara
war sauer! Niemand wollte sie ernst nehmen. Dabei war sie schon 6 Lenze
alt. Nun, dann würde sie die Träume eben für sich behalten. Sie gehörten
ihr ja ganz alleine. In
der nächsten Nacht befand sich das Mädchen wieder im Wald. Es ging zum
See, setzte sich ans Ufer und ließ die Füße ins Wasser hängen. Und
es dauerte auch nicht lange, bis sie am Waldrand etwas bemerkte. Es war
das Einhorn, das zur Tränke kam. Tara drehte sich vorsichtig um, und
sah das Tier an. "Rückst Du bitte ein wenig, damit ich zum Wasser
kann?", hörte das Mädchen eine sanfte Stimme. Tara sah sich fragend
um, aber außer dem Wesen war niemand da.
"Ja, ich bin es. Ich kann nicht laut wie die Menschen sprechen,
aber manche können mich doch verstehen." - "Du kannst sprechen?",
fragte das Kind laut. "Aber ja!, meinte die Stimme in ihrem Kopf
belustigt. "Wir Glasswitren können das - aber nicht alle hören
zu!" Tara rückte nun ein Stück zu Seite, und das Einhorn trat ans
Wasser und trank. Doch wieder tauchte plötzlich der Schatten auf! Das Mädchen
ließ sich ins Wasser fallen und versteckte sich im Schilf. Das
Glasswitren raste wieder auf den Wald zu. Tara hörte einen Schrei in
ihrem Kopf: "Hilf mir!" Schweißgebadet
wachte das Mädchen auf. Wie konnte sie dem armen Tier nur helfen? Immer
kam der böse Drache und griff das Einhorn an. Es war sicher furchtbar
durstig! An
diesem Nachmittag mußte Tara nicht auf dem Feld oder im Haus arbeiten,
und sah daher den Kämpfern beim Üben zu. Das tat sie viel lieber, als
in irgendwelchen Hütten den Erzählern und Barden zu lauschen.
Wahrscheinlich hatte sie deshalb auch nie die Geschichten über die
Fabelwesen gehört. Zwei junge Männer schlugen mit Schwertern
aufeinander ein, und ein Mädchen brachte seiner kleinen Schwester bei,
wie man die kleinen Messer warf. Ein alter Mann brachte einer Frau bei,
wie man am besten eine Lanze handhabte. All dies faszinierte Tara sehr,
und beim Spiel mit den Gleichaltrigen war meist sie diejenige, die als
erste mit erhobenem Holzschwert den kleinen Hügel am Rande des Dorfes
stürmte... "Man
müßte diesen Ffulgor erschlagen!", überlegte das Mädchen. "Ich
bin aber doch nur ein Kind! Vielleicht kann ich ihn ja verjagen!" Als
Tara am Abend in ihr Lager kroch, hatte sie sich gut ausgerüstet. Sie
hatte sich einen Dolch ihrer Mutter und das Beil vom Hauklotz genommen.
Das Schwert des Vaters war viel zu schwer, also mußte es ihr
Holzschwert tun. Und als Rüstung hatte sie ihre dicken Winterkleider
an. Eigentlich konnte sie vor Spannung gar nicht einschlafen, aber
irgendwann fielen ihr doch die Augen zu... Tara
war wieder am Waldrand. Und tatsächlich hatte sie all ihre Waffen dabei
und ihre Rüstung an! So ging sie zum See und und wartete. Und es
dauerte auch nicht lange, da kam das Glasswitren aus dem Wald und trat
auf das Mädchen zu. "Was willst Du denn mit all diesen Dingen?",
sagte die Stimme in Taras Kopf. "Ich werde Dich beschützen, damit Du
endlich in Ruhe trinken kannst!", sagte die Kleine mit trotziger
Miene. "Du bist sehr mutig,", sagte das Einhorn, "aber Ffulgor ist
viel zu gefährlich! Er verfolgt mich schon lange; und es gibt hier nun
diesen einen See, an dem man trinken kann. Ach, er wird mich schon nicht
bekommen." Und es senkte den Kopf
und tauchte das Maul ins Wasser. Tara versteckte sich hinter
einem Busch in der Nähe des Ufers. Und
wieder verging nicht viel Zeit. Der Drache erschien über den Wipfeln am
anderen Ufer! Ffulgor
streckte die Vorderbeine mit den spitzen Krallen nach vorne, um das
Einhorn besser greifen zu können. Dieses hatte ihn bemerkt und rannte
wieder auf den Wald zu. In dem Moment verließ Tara ihr Versteck, schrie
der fliegenden Bestie wüste Schimpfworte zu und fuchtelte wütend mit
ihrem Schwert und dem Beil herum! Der Drache war einen Augenblick
irritiert, und diese Zeit nutzte das Glasswitren, um zwischen den Bäumen
zu verschwinden. Verärgert wich er den Bäumen aus und flog dann in
einem Bogen auf das Menschlein zu. "Du bist zwar nur etwas für den
hohlen Zahn, aber wenn ich den blöden Hörnergaul schon nicht
kriege...", dachte er sich. Tara
hatte ihn allerdings verstanden, und so schrie sie ihn an: "Du kriegst
mich nicht, und das Einhorn erst recht nicht!" Und sie hieb mit dem
Beil nach Ffulgor. Nun war der Drache doch verdutzt - das Kind verstand
ihn ja! Das hatte er noch nicht erlebt. Er verharrte nun auf der Stelle
etwas oberhalb der Reichweite des Menschleins. Mit seinen großen Flügeln
machte er ordentlich Wind, so daß Tara fast umgeweht wurde. "Na, was
soll mich hindern Dich zu fressen?" - "Daß ich Dich hören kann! Du
kannst doch niemanden fressen, der Dich versteht!", rief Tara so laut
sie konnte. Der
Drache wurde nachdenklich und landete in der Nähe des Mädchens.
Sorgsam faltete er seine Schwingen auf dem Rücken zusammen. "Da ist
was dran. Du bist aber auch der erste Mensch, der mit mir spricht.
Bisher habe ich die Menschen eigentlich für ziemlich dumm gehalten.
Nicht viel besser als Wölfe oder Pferde..." Die Stimme in Taras Kopf
klang belustigt. "Ich bin aber nicht dumm! Und das Glasswitren auch
nicht! Das verstehe ich nämlich auch!", erwiderte das Mädchen.
"Wie, das spricht mit Dir?" Der Drache klang jetzt doch erstaunt.
"Ja, und es hat gesagt, daß ihm nur niemand zuhört."- "Mh, mir hört
eigentlich auch keiner zu. Dabei habe ich ja nur Hunger - na ja, und ein
wenig Spaß an der Jagd...", meinte Ffulgor und legte den Kopf
vorsichtig vor Tara auf das Gras. Das Mädchen wich einen Schritt
zurück und hielt ängstlich das Holzschwert vor sich. Aus den Nüstern
des Drachens stieg etwas Rauch auf, als er fragte: "Und, Kind, was
soll ich dann Deiner Meinung nach fressen?" Tara mußte nicht lange überlegen.
"Friß Hirsche, und Wildschweine; Bären und Mawrhagals von mir aus.
Aber laß' das Einhorn in Ruhe! Und wenn es noch mehr Glasswitren gibt,
dann laß' sie auch in Ruhe.", beeilte sie sich zu ergänzen. "Du
bist ganz schön mutig, Kleine!", meinte der Drache. "Na gut, werde
ich eben ein Riesenkanin jagen. Die sind so dumm wie Bohnenstroh..."
Ffulgor brach ab. Das Mädchen vernahm ein lautes Lachen, als der Drache
seine Flügel ausbreitete und sich in die Luft schwang. Sie sah ihm noch
lange nach... Tara
wachte auf. Sie schwitzte fürchterlich in ihren warmen Sachen, daher
zog sie sie schnell aus. "Das
glaubt mir niemand!", dachte sie sich, als sie das Beil wieder auf den
Hauklotz legte. Aber
sie fühlte sich sehr glücklich. In
der nächsten Nacht träumte Tara nicht mehr von dem Einhorn und dem
Drachen, und auch in den folgenden Nächten nicht mehr. Sie hätte doch
zu gerne gewußt, ob es dem Glasswitren jetzt gut ging. Über
ein Jahr war vergangen, aber die Erinnerung an ihr Erlebnis war immer
noch wach. Am
Tag des Erntefestes rief der Vater seine Tochter zu sich: "Komm, ich
habe ein Geschenk für Dich!" Er führte das Mädchen zum Stall.
"Das ist für Dich!" In
einem Verschlag stand ein schwarzes Fohlen mit glänzendem Fell. Tara
war sprachlos. Das Pferdchen hatte große, klug wirkende Augen und sah
das Kind furchtlos an. Es fehlte tatsächlich nur das Horn auf der
Stirn. "Ob
das ein Geschenk des Glasswitren ist?", fragte sich Tara. "Ja!",
wisperte es in ihrem Kopf. "Es ist meine einzige Möglichkeit, Dir für
Deine Hilfe zu danken!" Überglücklich
und weinend vor Freude fiel sie ihrem Vater um den Hals. © Andrea C. Schäfer Meerbusch, im Februar 1998 |