TirThuatha

 

Katzenschädel und Milch

Die Feuerstelle inmitten des kleinen, karg ausgestatteten Raumes brannte ruhig und warf seine tanzenden Schatten auf die groben Steinwände. Still, gesättigt vom bescheidenen Nachtmahl eines hart arbeitenden Bauern, saß die kleine Familie im Kreis und wärmte sich an dem Feuer. Gathwynn, seine Frau Eghees, Morroth, sein siebenjähriger Sohn, und Heyla, seine vierjährige Tochter, genossen dieses allabendliche Familienritual. In warmen Fellen eingewickelt, mit den verspielten Schatten des Feuers auf den Gesichtern, wurde der Tag besprochen, Pläne geschmiedet, alte Lieder gesungen und Geschichten erzählt. Eghees' alte Mutter wurde an diesen Abenden regelmäßig bedrängt, eine der alten Geschichten zu erzählen, die, so oft die Familie sie auch gehört hatte, nie ihre Faszination verloren.
"Ich habe heute Abend am Wald neben dem Bach einen vom Hügelvolk gesehen", flüsterte Morroth aufgeregt in die Richtung der alten Frau. Seine Wangen waren von der Hitze des Feuers und seiner unverhohlenen Aufregung gerötet.
"Unsinn!" brummelte sein Vater und schüttelte missmutig den Kopf.
Die alte Frau sah vom Feuer auf und blickte interessiert zu dem Jungen, der unruhig hin- und herrutschend seinerseits ihren bestätigenden Blick suchte.
"Und wie sah er aus?" fragte sie genauso leise flüsternd zurück.
"Klein, schlank, spitze Ohren und, und…"
"Ha, das war ein Elf, ein Elf!" jubelte seine keine Schwester plötzlich laut los, so dass alle anderen überrascht zusammenfuhren.
"Gar nicht, Großmutter, wirklich!" protestierte Morroth mit nach Unterstützung flehender Stimme.
Gathwynn lachte und schüttelte wieder seinen Kopf.
"Sohn, ich habe schon vieles aus den Hügeln hervorkommen gesehen, und ich habe vieles auch eigenhändig aus den Hügeln herausgelockt und gejagt, aber bestimmt war noch nie einer vom Hügelvolk dabei."
Morroths kleines Gesicht verfärbte sich tiefrot vor Scham über die sanfte Zurechtweisung durch seinen Vater.
Seine Großmutter jedoch sah ihn, immer noch in Gedanken verloren, an und lächelte.
"Weißt du, sie leben nicht unter der Erde, wie die Kaninchen, oder wie andere Tiere, die ihre Höhlen im Schutz der Hügel bauen, aber sie mögen Hügel recht gerne. Deswegen wurden sie dort wohl auch schon gesehen. Vielleicht auch einfach nur, weil wir dort die Opfersteine für sie gerne hinstellen."
"Oder aber, weil sie so klein sind, und von einem Hügel viel weiter schauen können!" fügte die kleine Heyla eifrig mit wild umgreifender Gestik bei.
Die Erwachsenen lachten über die rege Fantasie der Kleinen, doch ihr Bruder war nun sichtlich verstimmt.
"Gut, dann war es, was weiß ich nicht, und das Glöckchen war der Wind!" murrte er leise vor sich hin.
"Moment, wenn du meintest einen zarten Ton vernommen zu haben, kurz, fast nicht zu deuten, dann, - ja, dann könnte es tatsächlich einer vom Hügelvolk gewesen sein."
"Ja, aber wo leben die denn, wenn nicht im Hügel unter der Erde?" wollte die kleine Heyla, neugierig geworden, jetzt wissen.
"Da muss ich weit ausholen, bis in die Zeit vor der Zeit," erklärte die Großmutter. "Als es noch eine Zeit, - weit vor unserer Zeit, ja, bevor überhaupt Menschen lebten, - gab, da lebte das Hügelvolk auf dieser Welt so wie wir. Sie handelten, jagten, fischten, kämpften. Ja, sie waren so wie wir. Airdhust hatte sie geschaffen, so wie alles Leben. In ihrem riesigen Kochtopf schuf sie jede Kreatur, und jede war einzigartig. Als das Hügelvolk noch auf dieser Welt wandelte, da gab es auch Tiere, die es heute nicht mehr gibt. Große und kleine, Pflanzenfresser und Raubtiere, - und viel Magie.
Eines Tages jedoch, da beschloss sie alles neu zu machen. Tiere, Pflanzen, Menschen und alles schon dagewesene wollte sie wieder vernichten. So, wie wir den kleinen Garten immer wieder neu bestellen und umsetzen, damit die Ernte besser wird als zuvor.
Aber da war noch einer ihrer Söhne. Sein Name ist Moch, und er ist der Gott und der alleinige Herr über den Tod. Dieser Sohn hatte große Freude an dem Hügelvolk und bat seine Mutter ihm doch zu gestatten, dieses Volk nicht untergehen zu lassen. Und die große Mutter vernahm seinen Wunsch und erfüllte ihn, mit der Forderung, dass er dafür sorgen muss, dass das Hügelvolk den neuen Geschöpfen ihres Kessels zu weichen habe."
"Das ist aber eine liebe Mutter," seufzte die kleine Heyla. "Aber wo hat er sie denn nun versteckt, die kleinen Leute vom Hügelvolk?"
"Moment, kleiner neugieriger Schmetterling," sagte die alte Frau und zerzauste die Locken des Mädchens sanft mit ihrer mageren Hand. "Ich erzählte euch schon, dass Moch der Gott der Toten ist, und das ist die Lösung des Rätsels. Er ging zu den acht hohen Räte der Hügel- Städte, weil es acht Städte waren, und gab bekannt, dass er sie in zwei Monden mit in sein Reich holen würde.
Oh, das war eine Aufregung! Moch sagte, dass er sie in sein Totenreich nehmen würde, mit allem, was um ihre Städte lag: Bäume, Pflanzen, Tiere - und vor allem das Hügelvolk. Das Volk war in Angst und Trauer, - aber was blieb ihnen übrig? Moch versprach ihnen, auf sie aufzupassen, wie ein Vater seine Kinder beschützt. Er sagte ihnen, dass er sie reichlich für ihren Verlust entlohnen werde, und so bereiteten sie sich voll Hoffnung auf den großen Tag vor. Alle, - bis auf einer! Dieser war der König der größten und prachtvollsten Stadt im Reich. Gold lag als Wegbefestigung auf der Erde und alles war von solcher Pracht, dass ein Mensch erblinden würde, wenn er es je gesehen hätte.
Dieser König versammelte die weisesten Magier um sich. Und nach langer Planung hatten sie sich eine unglaubliche Zauberkraft geschaffen. Die sollte, wenn alle anderen Städte ins Totenreich verschwinden würden, seine Stadt schützen. Und so, - so war sein Plan, - wäre sein Reich das mächtigste, größte und wunderschönste der ganzen Welt! Vielleicht hatte Moch von diesen Plänen des Königs nichts gewusst, vielleicht aber doch….."
"Oh bitte, Großmutter, schau nicht nach deinem Becher. Hier, nimm meinen, er ist randvoll mit guter Milch und erzähle schnell weiter, bitte… "
Morroth reichte der alten Frau hastig seinen Becher und seine Augen waren erwartungsvoll aufgerissen.
Die alte Frau lächelte über die Erinnerung, wie sehr sie als Kind diese Geschichte geliebt hatte, und ja, auch sie hatte diese kleinen Atempausen der Erzähler damals als unerträglich empfunden.
"Als der Tag kam, da waren die Vorboten der Magie Mochs schon am Himmel erkennbar. Alle Vögel suchten sich einen Platz, als ob sie sich für die ewige Nacht vorbereiten wollten. Keine Wolke, kein Stern war erkennbar. Seltsam graue Nebel stiegen aus der Erde empor und umschlossen die einzelnen Städte und ihr Vorland weitläufig, wie ein Kokon den Schmetterling. Eine unheimliche Stille machte sich breit. Immer dichter wurde dieser Nebel.
Umschlossen waren nun die Ländereien und Städte, wie in einer Seifenblase aus grauem Licht. Und dann kam ein gewaltiges Rauschen, das alle zu Boden sinken ließ. Tiere waren starr vor Schreck, und auch das Hügelvolk lag wie tot, starr und unbeweglich wie Statuen aus grauem Fels. Alle ließen geschehen, was geschehen sollte, - bis auf einer!
Der König der reichen achten Stadt wob mit seinen Magiern einen Gegenzauber.
Und er war zufrieden. Denn am Horizont sah er eine andere Stadt umhüllt von einer riesigen Blase aus silbernem Licht langsam verschwinden. So wie der Wind die Spuren im Sand langsam hinfort weht, so verblassten auch die Umrisse der Stadt, bis sie ganz verschwunden war.
Seine Stadt jedoch war nur leicht umhüllt, so dass er die Sonnenstrahlen noch sehen konnte.
Dann kam der Lärm. Tosend, brausend, donnernd wie zehn mal zehn Gewitterstürme auf einmal. Seine Magier schrieen vor Entsetzen und viele verschwanden in einem grellen Blitz, ohne dass auch nur noch eine Kleinigkeit von ihnen übrig war. Dann kam die absolute Dunkelheit."
"Großmutter, was ist denn mit den anderen? Die, die sich dem Willen Mochs gebeugt haben?" fragte Heyla hastig, und zupfte nervös mit ihren kleinen Fingern an dem Fell, auf dem sie saß.
"Oh ja! Als sie wieder zu sich kamen, fanden sie sich an dem gleichen Ort vor, an dem sie zuvor zu Boden gegangen waren. Ihre Städte, ihr Land, ihre Pflanzen und Tiere, alles war gesund, und ein blauer, freundlicher Himmel über ihnen trieb sogar im Wind weiße Wolken vor sich her. Jede der sieben Städte mit ihren Ländereien lebt wie in einer Seifenblase im Reich der Toten, im Reich des großen Gottes Moch, in der Anderswelt.
Sie waren so Glücklich, dass sich von da an die Kinder des Mochs nannten. Tuach na Moch, so ist ihr wahrer Name."
"Und wieso hört man denn nun das Glöckchen, wenn sie da sind, Großmutter?" fragte Morroth.
Die alte Frau verzog grübelnd ihre Miene.
"Nun, das weiß so recht keiner. Aber es heißt, dass sie mit einem Glockenton geboren werden, der sie ihr Leben lang begleitet, damit Airdhust immer weiß, wo und wie viele vom Hügelvolk die Anderswelt verlassen haben, um kurz auf dieser Welt zu wandeln. Denn das ist ihnen gestattet.
Vielleicht tragen sie auch diesen Glockenton, um in der grauen Anderswelt außerhalb ihrer Ländereien nicht im Totenreich verloren zu gehen, weil das endlos ist… Wer weiß? Vielleicht wird eines Tages einer vom Hügelvolk uns das erzählen, vielleicht sollen wir das aber auch gar nicht wissen…"
"Aber vielleicht auch, - vielleicht auch um uns zu warnen, weil das Hügelvolk ja auch schlimme Sachen macht," plapperte Heyla aufgeregt weiter.
Ihre Mutter lachte und zog das kleine Mädchen sanft zu sich.
"Mama, welche Geschenke haben denn die vom Hügelvolk bekommen? Von Moch meine ich?"
"Oh Kind! Sie leben immer, sie brauchen niemals zu sterben, und sie sind von wirklich schöner Gestalt. Das ist Mochs Geschenk an sein Volk."
"Und was ist mit den anderen?" hakte Morroth nach.
"Die achte Stadt? Nun, sie soll auf einer Insel sein. Aber das Volk der ehemaligen prunkvollen Stadt soll klein und schrecklich hässlich sein. Und es heißt, dass sie so böse über ihren gescheiterten Plan sind, dass sie nur wirklich böse Dinge machen."

Langsam kehrte Ruhe ein, die Kinder schlummerten auf ihren Lagern und die restliche Glut des Feuers spendete nur noch wenig Wärme. Morroth drehte sich schon halb schlafend seinem Vater zu, der die letzten Züge seine Pfeife paffte.
"Vater, ewig leben, das würde ich auch gerne," flüsterte er ihm zu.
Gathwynn lachte rau.
"Das glaub ich dir, mein Sohn! Aber wer ewig lebt, langweilt sich bestimmt auch viel, und dann würdest du noch mehr Dummheiten machen. Schlaf jetzt, und höre auf, an die alten Geschichten zu glauben, das ist nicht gut für deinen Kopf und eh alles erfunden, das gibt es alles nicht." Die einzige Antwort war das tiefe, gleichmäßige Atmen des tief schlafenden Sohnes.

Als er aufstand und vor die Tür trat, um seine Pfeife auszuklopfen, war die Nacht schon tief fortgeschritten. Leise ging er nochmals in die Hütte und nahm einen Krug Milch und etwas Käse und ging, die schwere, grob gezimmerte Tür so leise wie möglich schließend, wieder nach draußen. Er folgte im Licht der Sterne den seit Generationen ausgetretenen Pfad.
Am Bach schimmerte der kleine Opferstein im silbernen Mondlicht, und vorsichtig füllte er den kaltblinkenden knöchernen Schädel einer Katze mit Milch und legte diesen neben dem mitgebrachten Stück Käse wieder auf den Stein. Vorsichtig legte er noch eine Prise seines Rauchkrautes hinzu und murmelte: "Schützt uns und unsere Kinder, Hügelvolk! Auch vor euren Späßen!"
Schnellen Schrittes ging er zurück zum Haus, und er wagte es nicht sich umzuwenden, als er ein kaum wahrnehmbares Klingeln zu hören vermeinte.

(Anmerkung des Autors: In den meisten Gegenden Tir Thuathas wird dem Hügelvolk Milch und Honig geopfert, sofern dies vorhanden ist. Da es aber auch sehr kalte Gegenden in Tir Thuatha gibt, steht dort häufig - insbesondere armen Familien - Honig nicht immer zur Verfügung. Hier wird traditionell auf Speisen ausgewichen, die selbst zubereitet werden können.)

© Britta Durchleuchter
August 2002
Kalkar