TirThuatha

 

Die Gestade der Zeit


Manche der Pfade funkelten im fahlen Licht und der düstere Grund verlieh ihnen einen besonderen Glanz, bis sie sich in der Ferne verloren. Syrrid hatte während seiner Reisen durch die endlosen Ebenen jenseits des großen Portals allerdings auch schon unscheinbarere Linien entdeckt, denen er hierhin und dorthin folgte. Meist endeten die verborgenen Pfade vor versiegelten Toren oder waren schlicht nicht mehr von dem Rest des Grundes zu unterscheiden. Graue, feine Linien, die sich im gleich farbigen Grund verloren, helle weiße Linien, die verblaßten und verschwanden ... Aber der Anblick eines gewaltigen und tiefblauen Sees oder Ozeans auf dieser Ebene war überraschend. Er war einer der hellen Linien gefolgt, die sich an diversen Knoten mit anderen Linien verband und dann immer weiter durch die Ebene strebte. Niemand wanderte hier entlang, jedenfalls waren Syrrid hier keine anderen Wesenheiten begegnet und es schien, als wollten diese Linien nirgends hin führen. Immer und immer wieder war er ob dieser Eintönigkeit versucht umzukehren, aber in der Ferne schien es irgendwie verheißungsvoll dunkel zu sein. Wie eine dichte Wolkenformation, die sich drohend am Firmament erhob, schien auch auf dieser Ebene ein Sturm oder Unwetter aufzuziehen, obwohl dies eigentlich unmöglich war. Nun ja, jedenfalls soviel Syrrid bis jetzt wußte, sollte es jedenfalls nicht möglich sein. Aber seine Erfahrungen auf dieser Ebene waren nicht sonderlich gut, er verweilte noch nicht lange hier, obwohl er sich bereits heimisch fühlte und auch keinerlei Lust verspürte, wieder in seine alte Gestalt zurück zu kehren. Eigentlich verblaßte die Erinnerung immer mehr, nur sehr vage konnte er sich noch an die Vorfälle erinnern, die ihn vom Leben zum Tode befördert hatten. Nur an einige Gestalten, die ihn früher begleitet hatten mochte er sich dann und wann erinnern und es schien, als würden diese Gestalten der Vergangenheit ihn rufen ... Aber meist konnte er nicht ausmachen, woher der Ruf kam und dann widmete er sich wieder den leuchtenden Linien am Boden, folgte ihnen mal hierhin und dorthin, reiste durch die endlose und eintönige Ebene und nahm nur hier und dort gewisse Nuancen dar. Erhebungen, Mulden, dann auch mal tiefe Taleinschnitte, vor denen die Linien auswichen oder dort abbrachen. Meist setzten sie sich an der gegenüber liegenden Seite wieder fort, obwohl es nicht einfach war, dort hin zu gelangen. Aber meist lohnte sich die Mühe, denn die Suche nach diesen bestimmten Linien war nicht so eintönig, wie darauf zu warten, daß irgend etwas passieren würde. Denn sonderlich viel schien sich hier nicht abzuspielen. Und so wanderte ein unruhiger Geist über die Ebene, die denjenigen vorbehalten ist, die nicht mehr auf der Welt der Lebenden wandeln.

Die Dunkelheit schien von dem leicht wogenden Wasser auszugehen und im Gegensatz zu der Ebene war hier nicht alles Grau in Grau. Tiefes Blau wechselte mit einem funkelnden Farbenspiel, das aus der Tiefe zu kommen schien. Außerdem verliefen die vielen farbigen, goldenen, schimmernden und sonstigen Linien direkt in die Wasser und verloren sich bald darauf in der Tiefe. Außerdem erkannte Syrrid, daß hier noch viele andere Linien in die Tiefe führten, die ihm zuvor gar nicht aufgefallen waren. Und während er noch dort stand und in die Ferne blickte, wo diffuse Lichter über die Oberfläche zu rasen schienen, einem nicht vorhandenen Himmel zustrebten oder einfach verschwanden, trat eine Gestalt scheinbar aus dem Nichts neben ihn und sah ebenfalls auf die See hinaus. Auch wenn er die in düstere Gewänder gehüllte Gestalt nicht hatte kommen hören, war Syrrid dennoch nicht überrascht oder erschrocken. Dunkle Kleidung, in deren Tiefe eine Art Sterne funkelten, düsteres Rot huschte durch die wallenden Ärmel und tauchte in der Tiefe des Brustkorbes weg, um dann tiefer wieder aufzutauchen. Die Kleidung war wie in einer leichten Brise in Bewegung und diese Bewegung schien sich nach Innen hinein fortzusetzen. Ein zeitloses und auch nichts sagendes Gesicht blickte aus schwarzen Augen auf das Geistwesen, das Syrrid nun war.
 "Nun ...?", die milde und klangvolle Stimme erfüllte die ganze Umgebung und schien aus allen Richtungen und auch aus seinem Inneren selbst gleichzeitig zu kommen. "Was führt dich hierher?"
 Syrrid musterte seinen Gegenüber genauer, konnte jedoch nichts ausmachen, an dem man sich hätte orientieren können. Alles war nichts sagend genug, um sich auch nur einen Augenblick später an die Gestalt erinnern zu können. 
"Ich habe keine Ahnung ... Ich bin den Pfaden gefolgt und kam hierher. Es schien die einzige Stelle in der unendlichen Weite zu sein, an der etwas anders ist. Es schien dunkler zu sein, als wenn Wolken hier wären, ein Unwetter ..."
 "Und?"
 "Und was?" Syrrid war irritiert.
 "Bist du enttäuscht?" Die Gestalt drehte sich um und schien auf das Wasser hinaus zu blicken, das sich jetzt leicht wogend langsam zurückzog und mit jeder leichten Bewegung gut einen Schritt weiter weg schien.
 "Enttäuscht? Nein ...", Syrrid schüttelte den Kopf. "Ich ... bin überrascht, einen See hier zu finden. Und alle Pfade enden hier im Wasser. Führen Sie durch den See?"
 Ein feines und freundliches Lachen erfüllte die Umgebung und eine Art milder Brise kam auf, die mit Syrrids Haaren und seiner Kleidung spielte. "Der See ist ein endloser Ozean und es gibt keine andere Seite. Alles beginnt und endet hier ... um es mit deinen Worten zu sagen. Denn nichts ist endlich, sondern ineinander verwoben jetzt und alle Zeiten. Keine Wesenheit wandelt hier, niemand ist außer mir und allem und allen."
 Syrrid seufzte. "Bis hierhin bin ich schon mit Rätseln gut versorgt ..."
 "Aber dies ist kein Rätsel, sondern die Antwort auf alle Fragen." Die Gestalt drehte sich um, keine Regung war in ihrem Gesicht zu erkennen.

Der Boden erzitterte leicht und Syrrids Sinne spielten verrückt. Er sah die Umgebung verschwimmen und verharrte regungslos auf der Stelle, ein Schwindel ließ ihn leicht taumeln und er sah angstvoll und fragend zu der schwarz gekleideten Gestalt hinüber. 
 "Was ... was geschieht mit uns?"
 "Nichts geschieht mit uns", antwortete der schwarz Gekleidete freundlich. "Nur mit dir geschieht etwas. Schau!" Er hob den Arm und wies in die Ferne. "Alles vereinigt sich hier. Alles ist zu jeder Zeit der Anfang und das Ende."
 Syrrid taumelte, während das Wasser seine Beine umspülte und er sehr langsam im Sand versank, Farben wirbelten umher und es zog ihn auseinander, wie er es schon einmal beim Durchschreiten des großen Portals bemerkte. Nur diesmal verspürte er keine Schmerzen ...

Das Erwachen war ein Dröhnen, nein, ein lang gezogener Schrei ... oder vielmehr eine Art kreischender Ruf, der kein Ende zu nehmen schien! Er hielt sich den Kopf und erwartete, irgendwo an einem Strand auf zu wachen, aber ihn umgab ein Raum der vertraut und doch wieder nicht vertraut erschien, während das Kreischen langsam alte Erinnerung weckte. Eine kleinere Gestalt in gebückter Haltung sah ihn direkt an, Angst und unausgesprochene Fragen standen in den großen Augen.
 "Was ist das für ein Geräusch?"
 "Ein Ruf ...", murrte er und hielt sich den Kopf, während er sich erhob. "Die Erhabene wird nicht begeistert sein. Das ist der Ruf eines der Rif-Siril ... obwohl das eigentlich nicht sein kann." Er seufzte tief und machte sich auf den Weg, denn schließlich war er der Erste Mittler der Erhabenen, auch wenn ihn dann und wann Zweifel überkamen und alte Erinnerungen seine Träume durcheilten. Und diesmal war Arol so, als hätte er dies schon einmal erlebt ...

© 1999, Thomas Klaus