Die Geister von St. Michael

Der Enzyklopädist Eduard Schmitt lebte auf einer Insel. Es war eine kleine Insel im Mittelmeer. Sie hatte einen Berg von dem ein Fluss herunterrauschte. Auf der Spitze des Berges stand die Kirche von Sankt Michael mit einem hohen Uhrturm. Jede volle Stunde schlug die Uhr einmal; um Mitternacht aber erklang die große, silberne Glocke dreizehn mal. Ein schmaler Bergpfad führte von der Kirche zu dem kleinen Dorf, in dem auch Eduard lebte, hinunter.

Die Häuser des Dorfes waren niedrig und klein und wegen der Hitze eng an einander gedrückt. Sie waren aus weißem Stein errichtet worden und die Fenster schmal und lang. In dem Dorf lebten nicht mehr viele Leute, denn für die Jungen gab es dort nichts. Sie waren auf die benachbarten, größeren Inseln gezogen, wo es Städte und damit auch Arbeit gab. In dem kleinen Dorf, das denselben Namen wie die Kirche trug, lebten nur noch die Alten, ihre längst erwachsenen Kinder und deren Kinder, die noch zu jung waren, um in die Städte zu gehen.

Das Dorf hatte auch einen Hafen in einer kleinen Bucht, an deren steinigen Ufern das Dorf lag. Tagsüber lagen die Boote der Fischer vertäut an den hölzernen Stegen, die wie Zähne in das stille Wasser der Bucht ragten, und des nachts fuhren die Männer hinaus um ihre Netze einzuholen. Die Insel selbst war karg und steinig und außer den Menschen, Vögeln, Bergziegen und kleinen Nagetieren lebten hier nur Insekten und, so sagten die Dorfleute – obwohl man hier nicht von ‚Leben’ sprechen kann – die Geister der toten Inselbewohner, die auf dem kleinen Friedhof begraben lagen.

„Sie kommen jede Nacht heraus, wenn die Kirchturmuhr dreizehn mal schlägt.“, erklärte die Alte Maria Eduard jeden Tag. „Um auf ihren Gräbern zu tanzen.“

Eine Gruppe geisterhafter Musiker in den bunten, altertümlichen Gewändern mittelalterlicher Gaukler solle ihnen zum Tanz aufspielen. Das behauptete jedenfalls die Alte Maria, die mit ihren Ziegen und dem Kräutergärtchen außerhalb des Dorfes lebte. Der Friedhof selbst war nur einer von zweien auf der Insel. Eduard hatte schon oft darüber nachgegrübelt, warum es wohl zwei Friedhöfe auf einer so kleinen Insel gab. Der größere lag noch innerhalb der Friedhofsmauern. Der kleinere, auf dem die Geister tanzten, lag auf der anderen Seite des Berges.

Der Fluss floss auf dieser Seite hinunter und der Friedhof lag neben dem Wasserfall. Die Klippe war mindestens zehn Meter hoch, hatte Eduard staunend geschätzt. Wenn man zur Mittagszeit hierher kam, so glitzerte das Wasser wie Juwelen. Die Sonne brachte es zum Glühen und erschuf Tausende kleiner Regenbogen. Das Wasser fiel in ein kleines Becken und von dort aus eilte es weiter und sprang über stufenartige Terrassen bis es wieder in eine Mulde fiel und von dort aus weiter den Berg hinab lief.

Der Friedhof war über den Terrassen. Alte Kreuze und weinende Engel mit zum Himmel erhobenen Händen oder verschränkten Fingern aus weißem Stein mit längst verwitterten Inschriften hoben sich dem Himmel entgegen. Umgeben war der Friedhof von einer niedrigen, weißen Mauer und hohen Pinien. Gras und Blumen wuchsen auf den Gräbern und die Wege waren gekiest und gepflegt, auch wenn hier schon lange niemand mehr begraben wurde.

Eduard Schmitt war einmal hier gewesen, als er auf die Insel gezogen war. Jetzt war er ein zweites Mal hier. Aber es war ganz anders als das letzte Mal gewesen. Die Nacht lag schon längst über der kleinen Insel. Der Himmel war klar und man konnte die Sterne und den vollen Mond am Himmel sehen. Keine einzige Wolke war zu erkennen.

Eduard war immer noch neugierig, auch wenn alle Leute behaupteten, je älter man werde, desto weniger würde einen die Umwelt interessieren. Eduard hatte die fünfundsiebzig längst überschritten. Er war noch immer sehr rüstig, obwohl ihm manchmal die Gelenke schmerzten und sein Rücken gebeugt war. Seine Augen waren immer noch so scharf wie sein Verstand und die Geschichten der Alten Maria hatten ihn neugierig gemacht.

Er glaubte nicht an Gespenster, aber die alte Kräuterhexe war so überzeugt von den Geistern wie alle anderen im Dorf. Also war er um diese Zeit hierher gekommen. Er wollte wissen, ob Maria Recht hatte oder nicht. Bald würde es soweit sein. Er sah auf seine Armbanduhr. Kurz vor Mitternacht. Bald würde die Turmuhr dreizehn mal schlagen und dann würden die Geister aus ihren Gräbern kommen und zu ihrer Musik tanzen.

Im Licht des Vollmonds schimmerte das Wasser sehr hell. Es sah aus, als würde jemand flüssiges Silber die Klippe hinuntergießen. Es fiel in silbernen Kaskaden in das obere Becken und floss träge durch das Bachbett auf dem Friedhof und über die Terrassen, ehe es seinen Weg den hinunter Berg fortsetzte.

Der Wind rauschte leise in den Wipfeln der Bäume und die Luft roch nach Meer, Gras und Thymian. Die Kreuze ähnelten Gerippen, die sich dürr und klapprig gegen den dunklen Fels des Berges abhoben. Die Engel schienen beinahe lebendig, wenn das Mondlicht sie in kaltes Licht tauchte. Kleine weiße Blüten leuchteten ihm aus dem dunklen Boden entgegen wie Augen, die jede seiner Bewegungen beobachteten, und die Äste der Bäume flüsterten wie die geisterhaften Stimmen längst verstorbener Menschen. Oder waren sie es gar? Das ist nur der Wind, beruhigte er sich selber. Nur der Wind in den Ästen.

Es geschah nichts. Er konnte keine Geister hören und erst recht nicht sehen. Plötzlich erhob sich ein klarer Ton über das Land. Dong! Er zuckte zusammen und sah sich hektisch um. Der Friedhof war noch immer totenstill und schweigsam. Dong! Noch einmal der helle Ton. So hell wie eine silberne Glocke, ein lauter Glockenschlag. Dong! hörte er. Natürlich! Die Glocke!, durchfuhr es ihn. Das ist die Glocke von St. Michael!

Er starrte angestrengt zum Friedhof hinüber und umklammerte den Stab seiner Taschenlampe fester. Plötzlich kamen ihm lauter unheimliche Gedanken. „Lächerlich!“, hatte er gesagt als Maria ihm von den Geistern erzählt hatte. „Gespenster gibt es nicht!“ Auch heute Abend, wo die Sonne glutrot hinter dem Horizont verschwunden war und vier Stunden vorher, als er sein Haus mit der Taschenlampe verlassen hatte, war es ihm absurd und lächerlich vorgekommen, dass er diesen Ausflug überhaupt gemacht hatte.

Dong! erscholl die silberne Glocke wieder. Aber jetzt war er sich nicht mehr so sicher. Was, wenn es sie doch gab, die Geister? Würden sie ihn fressen, weil er bei ihrem Tanz zugegen war? Würden sie ihn zu einem der ihren machen? Dong! Der Ton rollte über das Land wie eine Welle, sprang über Felsen und Steine, raste durch das Dorf und den Friedhof und stürzte über die Klippen ins silberne und blaue Meer.

Dong! Da, war da nicht was? Es sah aus wie leichter silberner und glitzernder Nebel. Er blinzelte. Nein, er musste sich getäuscht haben. Dong! Seine Hand kroch zu seinem Hemdausschnitt, wo die alte Kette mit dem kreuzförmigen Anhänger hing, die seine Frau ihm einst geschenkt hatte. Er krallte die Finger darum. Der Querbalken schnitt ihm in die Handfläche.

Dong! „Die Glocke von St Michael ruft die Toten.“, sagte die brüchige Stimme der Alten Maria in seinem Kopf. „Wenn sie zur Mitternachtsstunde schlägt, ruft sie die Toten unter dem Wasser.“ Dong! Ein silberner Schleier hob sich aus dem Boden. Erst war er so dünn, dass Eduard ihn kaum sehen konnte, aber er wurde sehr schnell dichter. Er breitete sich über den gesamten Friedhof aus, schwappte gegen die weißen Mauersteine, waberte an den Kreuzen und Engeln hinauf stieß gegen die Felsen, auf denen er sich hinter einem großen Stein verbogen hatte, verschlang den Bach und leckte an den Wassern des Teiches. Eduard zog die Füße ein und duckte sich hinter seinen Stein.

Dong! Nichts rührte sich. Er lugte vorsichtig hinter dem Stein hervor und bemerkte, dass der silberne Nebel nicht weiter wuchs. Er waberte um die Gräber und es sah aus, als würde er Wellen schlagen. Dann bemerkte er, dass es keine Wellen waren. Dong!, machte die silberne Glocke. Gestalten wuchsen aus dem Nebel. Schlanke Gestalten, die sich hin und her wanden. Arme und Hände schoben sich aus dem Nebel, verschwanden wieder, nur um wieder hervor zu kommen. Köpfe folgten. Köpfe mit langem und kurzem Haar, mit schönen und hässlichen Gesichtern.

Eduard sah in seiner Nähe das Gesicht einer schönen jungen Frau mit langem Haar, das sie umgab wie eine Wolke. Ihre großen Augen lagen dunkel in dem bleichen silbernen Gesicht. Ihre Arme bewegten sich um sie als wolle sie Fliegen vertreiben, doch ihre Bewegungen waren langsam und anmutig.

Neben ihr wuchs ein Mann aus dem Nebel. Seine Wangen waren eingefallen, das Gesicht ausgezehrt und die gekrümmte Nase ragte scharf daraus hervor. Eduart sah eine dicke Frau mit pausbäckigem Gesicht, der sich eine Narbe quer durch das Gesicht zog. Eine dunkle Flüssigkeit lief daraus hervor. Kinder mit übergroßen Augen in spitzen, von Krankheit eingefallenen Gesichtern stiegen aus dem Nebel empor, Männer mit narbigen Gesichtern, Frauen, mit langem Haar, das in einem unnatürlichen Wind schaukelte. Eine dürre Alte, die aussah wie eine Hexe in einem Märchen kroch aus dem Dunst hervor.

Und sie alle bewegten sich langsam, tanzend um eine Gruppe altertümlich gekleideter Musiker herum. Einer von ihnen schlug eine Laute, ein zweiter ließ seine Finger über eine Harfe gleiten, ein dritter blies die Flöte und der letzte trug eine kleine Trommel auf dem Schoß.

Dong! Die Geister ließen sich nicht von der Glocke stören. Sie tanzten weiter, jeder für sich und doch alle zusammen. Die Musiker spielten. Eduart konnte sie nicht hören. Er konnte sie nur sehen, die Geister, wie sie lautlos durch den kniehohen Nebel tanzten in einem seltsamen schlangenartigen Tanz, bei dem sie sich wanden, vor und zurück taumelten, sich um sich selber drehten.

Das Haar und die langen Kleider der Frauen flatterten um ihre Körper herum. Sie alle waren altertümlich gekleidet, wie Leute aus dem Mittelalter oder noch früherer Zeit. Eduard zitterte am ganzen Leibe. Er hätte nie gedacht, dass Marias Geschichten wirklich wahr wären. Er biss die Zähne aufeinander, damit sie nicht klapperten und versuchte, die Geister nicht auf sich aufmerksam zu machen. Er sah sie an und soviel er sich auch bemühte, er konnte nicht wegsehen, sich nicht hinter seinen Felsen verkriechen um die Geister nicht mehr sehen zu müssen. Was wäre, wenn sie ihn entdeckten?

Dong! Der dreizehnte Schlag der Uhr. Dreizehn Schläge hatte es getan und nun erscholl die geisterhafte Musik der vier Männer in der Mitte des Friedhofs. Es war eine langsame, traurige Melodie in Moll und sie würde einen Stein zum weinen bringen. Sie kletterte hoch in den Himmel um abrupt wieder zurück zur Erde zu fallen, nur um den Aufstieg erneut zu beginnen und wieder abzustürzen. Triller schwangen sich in die Lüfte, die Flöte zwitscherte wie ein Vogel und dazu schlug die Trommel dumpf den Takt. Die Geister bewegten sich im Rhythmus der Musik. Ihre Kleider rauschten und ihre Schritte tappten leise auf dem Boden.

Eduard sah zu und konnte sich nicht rühren. Die Geister tanzten. Er krallte sich an dem Felsen fest. Die Ritzen und Rillen im Stein schnitten in seine Hand und das Kreuz, das er um den Hals trug, hielt er noch immer fest umklammert. Er spürte die Enden der Balken in der Hand. Die Geister tanzten. Der Stein ruckelte, aber er merkte es nicht. Die Geister tanzten und der Tanz bannte ihn. Er konnte nicht wegsehen.

Dann wand sich die klare Stimme einer Frau um die Melodie der Musiker. Die schöne Frau, die er vorhin gesehen hatte, jene mit dem langen Wolkenhaar, gesellte sich zu den Musikern. Der Stein knirschte. Die Geister hörten es nicht, doch Eduard wohl. Der Stein wackelte. Eduard versuchte, von ihm wegzukommen, doch es war bereits zu spät. Der Stein kippte vornüber in den Nebel und Eduard verlor das Gleichgewicht. Er stürzte hinterher, prallte schmerzhaft auf den Felsen, der ihm vorher noch Schutz geboten und ihn nun verraten hatte.

Er rollte sich herum und rappelte sich auf. Die Musik war verstummt. Die Frau hatte aufgehört zu singen. Die Füße der Geister standen still. Sogar der Wind war verstummt. Er sah sich um. Die Geister sahen ihn alle an. Sie rückten zusammen, kamen auf ihn zu. Eduard wich zurück, rutschte an den Felsen hinter ihm entlang. Er spürte die Mauer.

„Ein Lebender!“, flüsterte jemand. Es war eine dunkle schöne Stimme. „Ein Lebender!“, piepsten die Kinder. „Ein Lebender!“ Ein Mann mit einer blutenden Narbe im Gesicht stürzte auf ihn zu. „Gib mir dein Leben!“, brüllte er. „Ich will dein Leben!“

Eduards Hand krallte sich um sein Kreuz. Der Mann wurde von anderen Geister zurückgehalten, die über ihn zu klettern versuchten. Doch auch sie wurden weggerissen, von anderen Geistern. Die alte Hexe starrte zu ihm hoch und krächzte: „Lange hatten wir nicht den Besuch eines Lebenden!“

„Lebender!“, flüsterte die Sängerin. Sie ging schwebend auf ihn zu. „Lebender! Hilf uns!“ „Schenk uns dein Leben!“, kreischte eine Frau. „Schenk uns dein Leben! Ich will es!“ Eduard wich zurück. „Nein, nein…“ Seine Stimme versagte. War das ein Traum? Das musste ein Traum sein! Gleich würde er aufwachen und über seinen dummen Traum lachen!

„Wir sind kein Traum.“, flüsterte die Sängerin und die Hexe keifte. „Wir sind so echt wie du, Lebender!“ „Hilf uns!“, bat die Sängerin wieder. Die Musik setzte wieder ein. Die Triller der Flöte benebelten Eduards Verstand. „Hilf uns.“ Die Stimme der Sängerin war säuselnd wie ein sanfter Windhauch und umschmeichelte ihn wie der süße Duft von Rosen. „Gib uns dein Leben!“ „Ha!“, keifte die Hexe. „Du gehörst zu uns!“

„Gib mir deine Hand.“, bat die Sängerin schmeichelnd. Sie streckte schlanke Finger nach ihm aus. „Komm! Komm! Komm zu uns!“, riefen die anderen. „Gib mir deine Hand.“, bat die Sängerin wieder. „Komm!“ Der Chor der Geister hatte etwas seltsam hypnotisches. Er streckte die Hand nach der Hand der Sängerin aus. Ihre Finger waren schlank und lang, die Finger einer Künstlerin. „Gib mir deine Hand.“ Ihre Stimme war süß wie Honig und hypnotisierte ihn. Seine andere Hand krallte sich fester um sein Kreuz und es schnitt tief in seine Hand, brachte ihn wieder zurück. Seine Hand zuckte zu seinem Körper zurück und die Sänger ballte ihre Hand zu Faust.

„Du gehörst zu uns!“, zischte sie und plötzlich war ihre Stimme gar nicht mehr schön. „Du gehörst zu uns!“ „Komm! Komm! Komm zu uns!“, riefen die Geister und die alte Hexe sagte: „Gib ihr deine Hand!“ Eduard krallte seine freie Hand in sein Hemd und schob sich weiter an der Mauer entlang.

Weg! Bloß weg von den Toten! Die Sängerin lächelte und dann hob sie ihre Stimme zu einem Lied, das nur aus Tönen bestand. Die Instrumente passten sich ihm an, wanden sich um es wie eine Ranke um einen Baumstamm. Das Lied war lockend und süß und die Sängerin streckte wieder ihre Hand nach ihm aus. Sie lächelte. „Gib ihr deine Hand.“, flüsterten die Geister. „Gib ihr deine Hand.“, sagte die Hexe. „Komm! Komm zu uns!“ raunten die Geister und Eduard drückte sich an die Mauer hinter sich.

Er kroch weiter auf allen vieren, dann rappelte er sich auf. Die Mauer hinter ihm war plötzlich weg und er fiel hinten über. Die Sängerin lockte ihn mit ihrem Lied. Aber er wollte nicht zu ihr. Er drehte sich um und rannte. Eduart rannte. Er rannte wie er noch nie in seinem Leben gerannte war. Er rannte den Berg hinauf, quer über die steinige Flanke des Berges. Tausendmal fiel er und tausendmal stand er wieder auf. Steine versperrten ihm den Weg, Felsen erzwangen, dass er um sie herumging. Ihm war nie aufgefallen, wie steinig und steil der Berg war, wie schwer es war, hinauf zu kommen. Und hinter ihm tobten die Geister. Sie schrieen, kreischten und brüllten.

„Komm! Komm! Komm zu uns!“ Ein schriller, hoher Schrei zerriss ihm beinahe das Trommelfell und ließ den Berg bis auf die tiefsten Steine erzittern. Er rannte. Seine Beine taten weh, seine Knie schmerzten, seine Handflächen brannten. Sie waren aufgerissen, und Staub und Sand hing in den Rissen. Sein Atem klang keuchend und abgehakt in seinen Ohren und rasselte in seiner Brust. Bei jedem Schritt spürte er wie sich ein Schmerz wie von einer glühenden Nadel in seiner Seite trieb. Dann kam der Weg in Sicht. Er hastete darauf zu, am Ende seiner Kräfte.

Wie weit musste er noch laufen? Die Geister hinter ihm lachten; er hörte die schöne junge Sängerin mit ihrem süßen lockenden Gesang. Die Musik trillerte, stieg auf und nieder, der Chor der anderen Geister vermischte sich zu einem einzigen Stöhnen, Kreischen und Brausen, das auf- und abschwoll und wie mit gierigen, langen Krallenfingern nach im griff. Er rannte den Weg hinauf, blind, ohne zu sehen wohin er ging, ohne es zu wissen.

Dann kam er auf den Platz vor der Kirche. Er stolperte über einen Stein und fiel hin. Die Geister hinter ihm kreischten triumphierend, doch er kam wieder auf die Beine und wankte weiter. Die Kirche würde ihn retten. Ein geheilter Ort. Die Geister würden es nicht wagen, ihn zu betreten. Eduard lief weiter. Die Treppe, da war die Treppe!

Die Geister kreischten, der süße Gesang der Frau wurde lauter. Er spürte sie hinter sich, ein Lufthauch so leicht wie eine Feder. Ein Rabe schrie. „Komm zu uns!“, riefen sie. „Komm zu uns!“ Er raffte seine letzten Kräfte zusammen und lief weiter. Die Geister lachten. „Du gehörst zu uns!“, kreischte die alte Hexe hinter ihm. „Du kannst uns nicht entkommen!“ Die Treppe war nur noch zwei Meter entfernt, einen Meter, einen halben…

Sein Fuß stieß schmerzhaft gegen einen Stein und er fiel der Länge nach hin. Er kam auf die Knie und kroch weiter, auf der ersten Stufe der Kirchentreppe raffte er sich wieder ganz auf und taumelte die anderen sechs Stufen hoch. Er kam bis zur Tür, drückte sie auf, stolperte hinein. Kühle Stille umfing ihn. Die kreischenden Stimmen der Geister hinter ihm und die Musik hörte sich für einen Moment an, als käme sie aus weiter Ferne.

Die Kirche war hoch. Zwei Reihen Säulen stützten das Dach. Die Kirchenbänke waren aus Holz. Gegenüber der großen Eingangstür lag der Altar. Er war aus schwarz marmoriertem Stein, eine weiße Decke lag darauf, auf der Kerzen standen und der silberne Teller für das Abendmahl. Über dem Altar hing ein einfaches Kreuz, zwei ineinander gefügte Holzbalken. An ihm hing kein Jesusfigur wie es sonst üblich war. Es war leer. Oder doch nicht? Ein goldenes Licht schimmerte dort, wo die Balken sich kreuzten.

Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. Er taumelte den Gang entlang, sank vor dem Altar auf die Knie. Und draußen tobten die Geister. Sie umringten die Kirche, er konnte sie durch die bunten Glasfenster wie Schatten sehen, die durcheinander wirbelten in einem wilden Tanz. Und die schöne Frau sang noch immer. Ihre Stimme lockte. Der süße Gesang rief nach ihm, verwob sich mit der Melodie der Barden, trillerte wie die Flöte oder klang dumpf wie die Trommel.

Eduard krallte seine Hand fester um sein Kreuz. Er hatte es nicht losgelassen während er gelaufen war. Der Gesang lockte. Eduard wollte nicht hören. „Vater unser im Himmel“, begann er leise, wurde aber immer lauter als er merkte, wie das einzige Gebet, das er kannte, ihm half und ihn stärkte. „Geheiligt werde dein Name.“ Seine Stimme wurde lauter, fester, klang hell und gut in der Kirche. „Dein Reich komme, dein Wille geschehe.“ Die Geister schrieen und tobten, aber sie klangen leiser. War es, weil er nicht mehr hin hörte? War es, weil Gott ihn stärkte?

Die Stimme der Sängerin wurde auch leiser. Und dann schwoll ihr Gesang an. Höher und höher kletterte die Stimme bis die gläsernen Scheiben der Fenster klirrten und das Kreuz über dem Altar leise zu schaukeln begann. Der gewaltige Gesang übertönte sein Gebet. Er stöhnte und stockte. „…dein Wille geschehe…“ Die Stimme wurde lauter, triumphierender. Er sah zu dem Kreuz hoch. „…und vergib uns unsere Schuld…“

Das Licht am Kreuz wurde heller. War es wirklich da? Oder bildete er es sich nur ein? Bedrogen ihn seine alten Augen? Es flößte ihm Mut ein, das helle goldene Licht. Er sprach wieder lauter. „…geheiligt werde dein Name…“

Es wurde die längste Stunde seines Lebens. Er kniete vor dem Altar und sprach immer wieder das Vaterunser, während das Kreuz in seiner Hand ihm in die Handballen schnitt und das Blut aus seiner Faust tröpfelte. Um die Kirche tobten und brüllten die tanzenden Geister. Die Musiker und die Frau standen vor der Kirchentreppe und lockten ihn. Er wollte zu ihnen. Aber er blieb standhaft und betete weiter. „…und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern…“ Er konnte seine eigene Stimme in dem Schreien der Geister nicht hören, aber die Stimme der singenden Frau tröpfelte süß und lockend in seine Ohren. Er betete lauter. „…unser täglich Brot gib uns heute…“ Die Frau sang gegen das Gebet. „Vater unser im Himmel…“ Aber er wollte sie nicht hören. „…wie im Himmel, so auf Erden…“ Er betete und wusste nicht, wie lange er betete.

Plötzlich durchschnitt ein einzelner heller Ton sein inständiges Gebet, den süßen Gesang der Frau, die steigende und fallende Melodie der Barden, das Schreien der anderen Geister. Dong! Es war die Glocke der Kirchturmuhr. Sie schlug zur ersten Stunde des Tages. Schlagartig verschwand aller Lärm um die Kirche, das Trillern der Flöte, der süße Gesang. „…und vergib uns unsere Schuld…“ Seine Stimme hallte von den Kirchenwänden wieder.

Er verstummte. Es war vorbei, er spürte es. Er blieb sitzen. Dann beugte er sich vor und presste die Stirn auf den steinernen Kirchenboden. Er richtete sich wieder auf und ließ das Kreuz los. Gott hatte ihn gerettet. Er stand auf und ging. An der Tür drehte er sich noch einmal um und sah zu dem großen hängenden Kreuz über dem Altar hinauf. „Danke.“, sagte er und öffnete die Tür. Es war noch immer Nacht, aber der Mond tauchte alles in ein helles Licht. Er konnte genug sehen. Auf der untersten Stufe der Kirche lag ein lebloser Körper.

© Henrike